ZEIT ONLINE

2023-01-05 15:30:40 By : Mr. Bruce Tong

Selten haben wir in den letzten Jahrzehnten unsere Abhängigkeiten so deutlich gespürt wie seit Beginn der Pandemie, und noch einmal besonders seit Putins Truppen in die Ukraine einmarschierten. Ob wir es uns leisten können, im nächsten Winter noch gemütlich bei 21 Grad vor dem Fernseher zu sitzen, liegt in den Händen von Staatschefinnen und Kriegsführern. Welche Lebensmittel wir zu welchem Preis im Supermarkt finden, beeinflussen nicht mehr nur Unternehmen. Wann wir aufstehen und wie produktiv wir dann sind, bestimmen sowieso schon lange nicht mehr wir selbst, sondern unser Chef. 

Umso stärker äußert sich bei vielen das Bedürfnis, sich dort Räume der Freiheit zu erschließen, wo es noch möglich ist. Ballast loszuwerden und sich selbst zu versorgen – mit eigenen Tomatenpflanzen oder Solarstrom. Um ein wenig Autarkie zu gewinnen und etwas Aussteigerluft zu schnuppern, muss man nicht gleich in eine Jurte ohne Strom und fließend Wasser ziehen. Manchmal reicht es schon, einen Teil des Besitztums, ein paar Verträge und Bequemlichkeit einzutauschen gegen ein Gefühl von Unabhängigkeit, gegen mehr Zeit für sich und das Wesentliche. 

Der erste Schritt zum Ausstieg ist die Inventur: Was brauche ich wirklich? Das reicht von der Art, wie wir uns ernähren und Energie gewinnen, bis zum Job und zu den Beziehungen, die wir führen. Wir haben Tipps gesammelt und mit Menschen gesprochen, die schon einen Schritt weiter sind: Ein SPD-Abgeordneter, eine Selbstversorgerin, eine Minimalistin und ein echter Aussteiger erklären, wie das geht: Aussteigen für Anfänger.  

Um mal kurz, probeweise, aus dem Alltag mit seinen Annehmlichkeiten wie Zentralheizung und 7-Zonen-Schaummatratze auszusteigen, muss man kein ungewaschener Hippie-Typ sein. Der beste Beweis dafür ist Johannes Fechner, seit 2013 Abgeordneter für die SPD im Bundestag, Jurist, gut rasiert und Krawattenträger. Alle paar Wochen kommt er für die Sitzungswochen nach Berlin – und zeltet mit seinem Quechua-Einmannzelt direkt an einem Kanal der Spree.

Wie viele seiner Kolleginnen hat auch Fechner während der Sitzungswochen viele Jahre im Hotel übernachtet. "Als die Preise höher wurden, dachte ich mir, das ist nicht okay" – und schläft seitdem auf dem Campingplatz. "14 Euro kostet das pro Nacht", sagt der Schwabe. Und ausgeschlafener sei er auch: "Die frische Luft und ein Sonnenaufgang über dem Wasser beim Aufwachen entspannen mich."

Jeden Donnerstag liefern wir grüne Nachrichten, Lesestücke und Nachhaltigkeitstipps – für Menschen, die nach Lösungen suchen. Hier können Sie ihn abonnieren.

Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis.

Für ihn spiele aber auch ein sozialer Gedanke eine Rolle: Auf dem Campingplatz nehme er als Abgeordneter, der höchstens 20 Wochen im Jahr in der Hauptstadt ist, niemandem die Wohnung weg.

Fechner ist schon als Kind campen gefahren und tut es nun regelmäßig mit seiner Familie. Sein Arbeitsalltag in Berlin habe sich durch das Zelt kaum verändert: Frühstücken kann er im Abgeordnetenbüro, und wenn er sich auf den nächsten Tag vorbereiten will, nimmt er sich die relevanten Akten mit ins Zelt. "Dass ich im Zelt den Laptop nicht aufladen kann, tut auch mal gut."

Nach oben Link Link zum Beitrag

Die schlechte Nachricht zuerst: Sommergemüse wie Tomaten und Zucchini gibt’s für Selbstversorger nur in den warmen Monaten. Wie ein entbehrungsreiches Leben fühlt sich das trotzdem nicht an, findet Marie Diederich, die schon mit zwölf Jahren begonnen hat, auf der Dachterrasse ihrer Eltern die ersten Samen auszusäen.

"Das Schöne an der Selbstversorgung, egal ob teilweise oder voll, ist die Wertschätzung, die man gewinnt: für das Gemüse, Obst, überhaupt für sein Essen, für die Tiere – und für die Dinge, die wir schon so gewohnt sind, dass wir gar nicht mehr wissen, woher sie kommen oder wie sie entstehen", sagt die 27-Jährige. Für Diederich gibt es kein schöneres Gefühl als die Vorfreude auf die erste sonnengereifte Tomate. Da verzichtet sie im Winter gerne auf wässrige Tomaten aus dem Gewächshaus – und isst dann eben lieber Kohl. 

Die wichtigsten Fragen, die man sich stellen sollte, am besten bevor man mit dem Bepflanzen von Feldern beginnt, sind: Was brauche ich wirklich? Was kann und will ich selbst machen, und was passt überhaupt zu mir?

Diederich sagt: "Ich halte es für realistisch, dass man sich schon nach zwei Jahren, zumindest im Sommer, so gut wie komplett mit Gemüse selbstversorgen kann." Als Faustregel geht Diederich davon aus, dass man etwa 100 Quadratmeter Beetfläche benötigt, um eine Person ganzjährig mit Gemüse, aber ohne Kartoffeln, Getreide und Ölfrüchte zu versorgen. Dazu sollte man noch mal etwas 20 Prozent der Fläche für Wege miteinrechnen.

Tipps für die ersten Schritte: 

Nach oben Link Link zum Beitrag

Vor allem in der Bahn fällt Jasper auf, wie anders sein Leben ist: Wenn acht Leute mit ihm im Abteil sitzen und alle auf ihrem Smartphone scrollen. Jasper ist 26 und hat noch nie ein Smartphone besessen. Datenschutz ist für Jasper ein "positiver Nebeneffekt": Es gebe ihm ein gutes Gefühl zu wissen, dass er nicht permanent getrackt werde. Aus demselben Grund soll sein Nachname hier ungenannt bleiben. 

Vor allem fühlt er sich in solchen Momenten unabhängig: "Ich bin weniger dazu verleitet, mit so einem Gerät jede Lücke zu füllen." Er schaut dann raus, liest ein Buch oder hört Musik, die er vorher auf sein Handy geladen hat. Auf seinem Sony Ericsson kommen auch sonst keine Push-Nachrichten oder Tweets an. Wenn er die Nachrichten vom Krieg in der Ukraine nicht mehr erträgt, schaltet er den Laptop aus. Das ist das Gute. 

Aber es gibt auch die anderen Momente, in denen er sich selbst "für seine Antihaltung" verflucht: Wenn er den Impfnachweis an seine Freunde schicken musste, um später in den Club reinzukommen. Wenn er bei der Ticketkontrolle erst den Laptop hochfahren muss. Wenn auf Reisen alles so viel leichter wäre, könnte er nur einen Blick auf Google Maps werfen.

Das Smartphone abschaffen, wenn man seit Jahren eins hat? Dafür ist der soziale Druck schon sehr hoch, findet Jasper. "Ich glaube, es lohnt zu differenzieren: Wofür ist mein Smartphone richtig sinnvoll? Und wann nutze ich es einfach nur, weil ich es mir angewöhnt habe?"

Was tun, um zumindest weniger Zeit am Smartphone zu verbringen?

Nach oben Link Link zum Beitrag

Ihre Kleidungsstücke hat Dina Schulz, 32, aus Prinzip nie gezählt. Für die Minimalistin aus Herford kommt es nicht darauf an, ob nun inklusive Socken und Unterwäsche nur 20 oder doch 40 Stücke im Schrank liegen. Ausmisten soll Spaß machen und Erleichterung bringen, findet sie – jedenfalls soll es "kein Trend sein, bei dem man akribisch Regeln einhalten muss". Die Fragen, die sich Einsteigerinnen und Einsteiger ihrer Meinung nach viel eher stellen sollten: Was brauche ich wirklich? Was zwackt? Und – um es mit Marie Kondō zu sagen – welches Teil macht mich glücklich?

Schon im Studium hat die Medienwissenschaftlerin richkind.de gegründet, damals ein Blog, heute ein Onlinemagazin mit Tipps für ein nachhaltiges Leben. Ein minimalistischer Kleiderschrank ermögliche es auch, sich Fair Fashion zu leisten, sagt Schulz: sich einmal eine Jeans für 120 Euro zu kaufen, statt vier davon für je 30. Sich pauschal zu verbieten, neue Kleidungsstücke anzuschaffen, hält sie für falsch: "Vielleicht muss ich mir sogar ein bestimmtes Teil kaufen, um mehrere andere loswerden zu können."

Was aber, wenn mehrere wichtige Geschäftstermine anstehen oder gleich drei Hochzeitsfeste nach der Pandemie? Schulz hat "keinen Stress damit", zweimal das Gleiche zu tragen. "Ich glaube, wir machen uns viel zu viele Gedanken darüber, was andere denken. Ich bin mir gar nicht sicher, ob das überhaupt jemandem auffällt."

Nach oben Link Link zum Beitrag

Alle zwei Tage muss Huck Middeke für ungefähr zwei Stunden auf seinen Heimtrainer – zumindest wenn er viel telefoniert hat und oft online war. Dann strampelt er, gemütlich im ersten Gang, und nutzt die Zeit, um nachzudenken. "Das ist meditativ", sagt Middeke. Er tritt in die Pedale, um seine Elektrogeräte aufzuladen: Mithilfe eines Heimtrainers, den er mit einem Elektromotor verkabelt hat, erzeugt er Strom. Mit dem Trimm-dich-Fahrrad von Kettler lädt er die Akkus von fünf USB-Geräten auf – Smartphone, Stirnlampe, eine Powerbank, ein Radio, ein Aufnahmegerät. Mehr elektronische Geräte nutzt er nicht. 

Middeke zog vor 15 Jahren von Deutschland nach Finnland, seit "drei Wintern" lebt er nun in einer Jurte in Joensuu, einer Stadt im Osten des Landes. Off-grid, wie er betont: ohne Anbindung ans öffentliche Netz für Strom, Wasser oder Abwasser.

Auch für Menschen, die ihren Vertrag mit dem Stromanbieter nicht gleich aufkündigen wollen, gibt es Möglichkeiten zu sparen – und sich ein Stück weit unabhängig zu machen.

Nach oben Link Link zum Beitrag

Um ohne Auto auskommen zu können gibt es neben dem 9-Euro-Ticket für den Nahverkehr weitere gute Ansätze – sogar auf dem Land.

Nach oben Link Link zum Beitrag

Irgendwann haben Lisa Wazulin Ausflüge ins Grüne nach Feierabend und am Wochenende nicht mehr genügt. Als Journalistin in einer Lokalredaktion stand sie oft unter Strom, arbeitete regelmäßig an Wochenenden, auch abends standen Termine an. Sie dachte schon länger darüber nach, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Doch immer wieder kamen Zweifel auf: "Das macht man doch nicht, mit Ende 20, ohne Kinder. Da macht man Karriere." Es dauerte Monate, bis sie beschloss: "Ich brauche keinen gesellschaftsfähigen Grund, um mir Zeit für mich zu nehmen." Jetzt hat sie montags frei.

Der Montag ist nun ihr Gartentag: Wazulin ist in der Großstadt, in Mannheim, aufgewachsen. Aber sie hat als Kind auch viel Zeit im Schrebergarten ihrer Familie verbracht. Um auszutesten, ob das Gärtnern etwas für sie ist, mietete sie anfangs eine kleine Fläche bei einem Urban-Gardening-Projekt. Inzwischen verbringt sie jeden Montag in ihrem eigenen Schrebergarten. Mithilfe von Familie und Freunden renovierte sie die Hütte, lernte, wie man ein Fenster einbaut, verlegte Boden und Fliesen, baute eine Küche ein. Tagsüber legte sie ein Kraterbeet an, abends las sie übers Gärtnern. 

"Der freie Tag hat mich viel entspannter gemacht", sagt Lisa Wazulin. Plötzlich könne sie den Sonntag viel besser genießen, weil "nicht der böse Montag mit all seinen Verpflichtungen wartet". Sie pflege Freundschaften viel intensiver oder besuche ihre Oma öfter – ganz ohne Termindruck. 

Nach oben Link Link zum Beitrag

Arbeitszeit reduzieren, ein Sabbatical einlegen, als Vater länger Elternzeit nehmen – "das muss man sich leisten können", heißt es oft. Aber wie viel Geld man zum Leben wirklich benötigt, lässt sich pauschal nicht sagen. Die Zahlen des Statistischen Bundesamts geben Orientierung: 2.507 Euro gaben deutsche Haushalte im Jahr 2020 demnach monatlich im Schnitt an Konsumausgaben aus. Haushalte, nicht Einzelpersonen – und in einem Jahr, als viele Preise niedriger waren als heute. 

Nach oben Link Link zum Beitrag

Uiui. Interessanter Artikel und Riesen-to-do-Liste.

Ich fang schon mal mit dem tragbaren Telefon an, schalte es aus und bin unerreichbar. ZEIT-Artikel kommentieren fällt dann auch flach. ;-)

Als nächstes kapere ich als Städter den Garten meiner Mutter und ziehe dort mein Gemüse auf ihrem geheiligten englischen Rasen und hole Hühner und Schafe dazu. ;-)

BTW: Meine Herkunftsfamilie war zu 80% Selbstversorger wie im Artikel. Sogar das Schwein wurde vom mobilen Metzger auf dem Hof geschlachtet, die Würste wurden selbst gemacht, es wurde alles eingeweckt. Getreide und Kartoffeln: eigene Felder. Paar Kühe, Hühner und Enten, Katze, Hund. Der Rest war verpachtet. Nur so konnte man überhaupt sparen und sich als junge Familie später ums Eck ein eigenes Haus bauen.

Geht alles heute nicht mehr. Heute muss man sparen und selbstversorgen, damit man nicht so hoch runterfällt von der Wohlstandshühnerleiter.

Lach, der erste Tip: einen Campingbus mieten (Kasko inklusive), weil Zelt für die künftig unabhängigen zu unbequem sein könnte.

Das fand ich auch sehr lustig. Nicht vergessen, alle fünf Minuten unter dem Hashtag #vanlife mitten auf der Wildnis zu posten...

Selbstversorgerwelle die-ich-hab'-nicht-mehr-gezählt-wievielste!? Viel Mut und Glück bei der aktuellen Welle. Kleiner Tip: Macht es einfach besser als Eure Vorgänger.

100m² Außenfläche muss man erstmal haben. Gerade im eher städtischen oder vorstädtischen Bereich lohnen sich auch Gemüsekisten der Erzeuger via Direktvermarktung. Oder Communities, in denen man anteilig Land kauft und dann miternten kann. Im ländlichen Gebiet natürlich besser umsetzbar.

Und dann ist das Gärtner auch erstmal mit einer Reihe Anschaffungen verbunden: Spaten, Schaufel, Rechen, Sauklaue, Behälter für den Kompost (oder das Material dazu), Regentonnen, Gießkannen, etc. ...

Bitte melden Sie sich an, um zu kommentieren.